Selbst Mitglied in einem Arbeitskreis „kritische Soziale Arbeit“, hat mich zur Konferenzteilnahme die Überlegung bewogen, wie sich in anderen Ländern „kritische“ SozialarbeiterInnen organisieren und mit welchen Inhalten sie sich beschäftigen.
In vielerlei Hinsicht bin ich unvorbereitet gewesen. Das Thema „Soziale Arbeit in Großbritannien“ war mir bisher recht fremd, nur vereinzelt hatten mir Rückkehrer von „Jacaranda“[1] berichtet bzw. hatte ich mich zeitweise mit den Kindertransporten auseinandergesetzt, in dessen Rahmen 1938/1939 über 10.000 jüdische Kinder ohne Eltern nach Großbritannien fliehen konnten (hierbei gibt es viele Aspekte, die an die Debatten um sog. „unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“ erinnern) .
Liverpool selbst hat eine bewegende Geschichte. Einst führende „Welthandelsstadt“ (zeitweise lief 40 % des Welthandels über Liverpool, auch für den transatlantischen Sklavenhandel war die Stadt von großer Bedeutung: bis Ende des 17. Jahrhunderts war eins von vier Schiffen, das in See stach, ein Sklaventransport), sank die Einwohnerzahl im Zuge der industriellen Krise rapide (1930 850.000 -> 1985: 460.000). In der Stadt hatte es immer wieder prägende Auseinandersetzungen gegeben (Streiks der „Dockers“; soziale Unruhen wie Toxteth 1981; Unruhen 2011; massive Auseinandersetzungen der Stadt mit Thatcher[2]), die auch Inhale einiger Museen sind, die sich mit der Stadtgeschichte beschäftigen.
Zur Konferenz hatten sich ca. 450 TeilnehmerInnen eingefunden: Lehrende, Studierende und PraktikerInnen aus unterschiedlichsten Regionen des Landes und insgesamt über sieben verschiedenen Ländern.
Nach einer Begrüßung von Michael Lavalette (Vorstandsvorsitzender von SWAN, u.a. Hrsg. von „Radical Social Work Today: Social Work at the Crossroads“) hielt Prof. Danny Dorling (University of Sheffield) einen Einführungsvortrag. Dorling hat mehrere Fachbücher zum Thema Ungerechtigkeit publiziert, dessen Struktur mitunter stark an Wilkinson & Pickett´s „The Spirit Level: Why More Equal Societies Almost Always Do Better …“ angelehnt sind und mit denen er auch in Austausch ist. Eindrücklich wurde von der Makroebene ausgehend (statistisch) dargestellt, welche Auswirkungen soziale Ungerechtigkeit auf die britische Gesellschaft hat (so differiert z.B. nach Stadtteil die durchschnittliche Lebenserwartung im britischen Sheffield um bis zu 15 Jahre).
Es folgten kurze Inputs zum Themenfeld: “What Happened to Anti-Racist Social Work?”, mit der Feststellung, dass Rassismus als Thema in den Hintergrund gerückt ist und auch die Rechtsextremen (insbesondere der faschistischen British National Party) wohl aktuell sehr präsent sind und ein aggressives Vorgehen aufweisen.
Für den Nachmittag entschied ich mich für den Workshop: Dale Farm’, Traveller Communities and Social Work. Nach einer Erläuterung der Unterscheidung zwischen „Irish Traveller“, „Scottish Traveller“ und Roma, ging es hauptsächlich um die Ereignisse rund um einen seit ca. 1970 existierenden Stellplatz – der sog. „Dale Farm“- die 2012 gewaltsam für £18 Millionen (^= ca. 21 Mio. €) von der Polizei geräumt worden ist. Für einen Bruchteil der Summe wäre wohl als Lösung der Kaufes des Grundstückes möglich gewesen. Durch die Räumung sind ca. 1000 Irish Traveller vertrieben und ihres sozialen Umfeldes entrissen worden.
Im Beitrag ging es schließlich um Soziale Arbeit mit Travellern, sowie um die Diskriminierung der Traveller und Roma die – so scheint mir – der Diskriminierung der Sinti in Roma in Deutschland sehr ähnelt. Zahlreiche Beispiele medialer (z.B. Dokuserie: Big Fat Gypsy Weddings), institutioneller und „privater“ Diskriminierung bzw. Hetze wurden benannt. Alles in allem scheinen die Communities eher schlecht organisiert zu sein. Plädiert wurde für einen Einsatz für das Recht auf Wohnen (egal ob Wohnwagen/Wohnhaus die nur eine kulturelle Variante des Bedürfnisses nach Sicherheit gesehen werden können). Dargestellt wurden auch positive Aspekte der Communities. Für die Soziale Arbeit sei es von Bedeutung schon im Kleinen zu versuchen Diskriminierung entgegenzuwirken und sich Bündnispartner auch in den Verwaltungen zu suchen. Es wurde noch einmal festgehalten, dass Soziale Arbeit mit Travellern natürlich keine speziellen Kompetenzen erfordert – wichtig sei einfach nur die Haltung so wie Grundkompetenzen die als SozialarbeiterIn so oder so notwendig sind (wenn ich mich recht erinnere wurden Begriffe wie Empathie, Beratungskompetenzen etc. genannt)
Eine Sozialarbeitsstudentin aus dem Publikum verwies auf ihren eigenen Romahintergrund – aufgrund der gesellschaftlichen Diskriminierung beschloss ihr Großvater das Identitätsmerkmal offiziell zu abzulegen, und erst sie (-quasi in der 2. Generation-), beschäftigt sich wieder mit dieser Thematik.
Am Folgetag berichteten – nach der jährlichen Jahreshauptversammlung – unter dem Titel „Social Work and the Struggle for Social Justice in an International Context“ ausländische TeilnehmerInnen auf dem Podium von aktuellen Entwicklungen und besonderen Debatten in der Sozialen Arbeit in ihren Heimatländern (Irland, Ungarn, Slowenien). Besonders eindrucksvoll war der Bericht aus Slowenien, hier kam es zu einer Vernetzung von SozialarbeiterInnen und der Occupy-Bewegung. Der Bericht aus Ungarn beschrieb die mitunter desaströsen Entwicklungen mit denen Sozialarbeitende (zumindest diejenigen, die die Entwicklungen kritisch sehen) zu kämpfen haben: Militante Verfolgung der Roma, Erstarken rechtsextremer Strukturen inkl. Milizen, restriktive Gesetze (krasse Kriminalisierung der Wohnungslosigkeit) die u.a. dazu führen, dass auch einzelne kritische SozialarbeiterInnen von Repressionen und gerichtlichen Verurteilungen betroffen sind (z.B. wg. Aufrufs zu einer Demonstration gegen das Wohnungslosengesetz[3]).
Am Nachmittag ging es in den besuchten Workshops (die Wahl fiel alles andere als leicht..) um “radical case-work” im aktuellen Griechenland, um “Reconciling radicalism, relationship and role: priorities for social work with adults“, um „Civil Disobedience and lessons for the social work profession: undocumented migrant workers”, bei dem es um Hungerstreiks und Widerstand von Illegalisierten und Flüchtlingen in Griechenland ging. Nach dem Besuch eines Workshop mit dem Titel „Possibilities of human right´s based interventions in Social Work” folgten die abschließenden Reden von SWAN und unterschiedlichen Bündnissen.
Fazit und persönliche Einschätzung:
Interessant erscheint mir folgender Aspekt: Wie mir mitgeteilt worden ist, ist „Social Work“ in GB sehr „sozialarbeitsorientiert“ und beinhaltet kaum sozialpädagogische Themen. Jugendhilfe wird oft von Personen ausgeführt die keine Fachkräfte sind und würden als einen Bereich gesehen werden, in dem man immer arbeiten könne, wenn man nichts anderes finden würde. Zumeist würde nur die Steuerung von Fachkräften ausgeführt werden. Eine ganz neue Tendenz sei die Einführung von Sozialpädagogik-Studiengängen, die sich von „Social Work“ auseinanderentwickelt. Es findet also scheinbar eine zu Deutschland entgegengestellte Entwicklung statt (die natürlich auf die Historie und die unterschiedliche Ausgangslage zurückzuführen ist).
Grundsätzlich ist zu ergänzen, dass die Konferenzbeiträge trotz (teils fundamentaler) Gesellschaftskritik, nicht ausschließlich auf die „Makroebene“ konzentriert haben, sondern auch die Mikroebene mehrheitlich berücksichtigt – mit der Feststellung, dass auch eine „radikale“ bzw. „kritische Soziale Arbeit“ möglich ist („Another Social Work is possible“).
Bemerkenswert fand ich, dass nicht nur Professoren sondern gleichberechtigt Praktiker und Studierende mit Beiträgen zu Wort kamen.
Alles in allem herrschte eine ähnliche Atmosphäre wie bei der „Einmischen“-Arbeitstagung kritischer Sozialer Arbeit 2011 in Berlin. Der größte Unterschied ist möglicherweise, dass in GB kritische Strukturen bereits stärker etabliert sind, wie auch an der hohen TeilnehmerInnenzahl zu sehen ist (450 – die Tagung war bereits Wochen zuvor ausgebucht). Auf die Frage wie viele Sozialarbeitende im SWAN organisiert sind, habe ich bisher keine Antwort finden können.
Zusammenfassend kann durchaus der Eindruck gewonnen werden, dass europaweit eine neue Strömung Sozialer Arbeit im Entstehen begriffen ist oder z.T. schon entstanden ist.
SWAN setzt sich zunehmend für eine internationalistische Arbeit ein. Dies beinhaltet das aktive „Stellung-Nehmen/Positionieren“ bei Skandalen sowie Repressionen gegenüber kritischer/radikaler Sozialer und hätte in der Vergangenheit wohl auch mitunter erfolgreich Wirkung gezeigt. SWAN hat in unterschiedlichen Ländern (Japan, Ungarn, Irland etc.) Mitglieder und Strukturen.
Wünschenswert wäre ein häufigerer Blick in „Soziale Arbeit“ der Nachbarländer – es gibt viele Ähnlichkeiten und wir können sicherlich viel voneinander lernen.
N.G.