–> AKS Stellungnahme vom 29.03.2020 als PDF Datei <–
Das großflächige Einfrieren von Angeboten der Betreuung, Beratung und Begleitung von hilfebedürftigen Menschen im Zuge der Corona-Krise hat nach Ansicht des Arbeitskreises Kritische Soziale Arbeit (AKS) München weitreichende Folgen. Menschen in schwierigen Lebenslagen sind unter den aktuellen Bedingungen ganz besonders auf die Dienstleistungen der Sozialen Arbeit angewiesen. Viele hilfebedürftige Menschen bleiben jedoch jetzt in Krisenzeiten ohne persönliche Betreuung und Begleitung, da Kontaktbeschränkungen auch für Mitarbeitende sozialer Einrichtungen gelten. Zum anderen sind Sozialarbeitende v. a. in stationären Angeboten und Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete nicht ausreichend vor Ansteckung geschützt. Eine Aufforderung ergeht an alle Verantwortlichen, klare Leitlinien für den Erhalt von Angeboten im Krisenmodus zu etablieren und den Schutz der Mitarbeiter*innen vor allem an Stellen mit hoher Kontaktdichte zu gewährleisten.
Folgende Forderungen stellen wir im Rahmen unserer Profession als Sozialarbeiter*innen:
· Forderungen für die Soziale Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe
· Forderung für die Soziale Arbeit mit geflüchteten Menschen
· Forderung nach zusätzlichen finanziellen Hilfen für Menschen im Hartz-IV-Bezug
· Forderung nach vermehrter interdisziplinärer Zusammenarbeit
· Aufforderung an Arbeitgeber*innen in Sozialen Einrichtungen: Schutz von Risikogruppen in der Mitarbeiter*innenschaft, Unterstützung belasteter Bereiche
++ Bitte beachten Sie: Aufgrund der sich dynamisch verändernden Situation führen wir in diesem Paper nur einige Bereiche der Sozialen Arbeit beispielhaft an; ähnliche Auswirkungen sind für alle Bereiche der Sozialen Arbeit anzunehmen. ++
Forderungen für die Soziale Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe
Dass Kinder, Jugendliche und Eltern gerade wegen der Ausgangsbeschränkung Ansprechpartner*innen brauchen, die ihnen professionell und vertraulich zur Seite stehen, zeigt die Einstufung der Kinder- und Jugendhilfe von der Stadt München als systemkritisch. Ein Abbruch sämtlicher Beratungskontakte führt zu Verunsicherung, Ängsten und Konflikten.
Fachkräfte aus dem Bildungsbereich (Kita und Schule) müssen sich um Aufrechterhaltung des Kontakts zu den Familien bemühen. Wir schlagen vor, dass die jeweiligen Bezugspädagog*innen aus den Kitas und alle Klassenlehrkräfte aktiv telefonisch oder per Instant-Messaging auf die Familien zugehen und Beratung in dieser für alle herausfordernden Stresssituation anbieten. Die Schulsozialarbeit muss den ihnen bekannten Schüler*innen und Eltern, bei denen bereits Unterstützungsbedarf bekannt war, ebenfalls aktiv Beratung anbieten. Teilweise findet all dies bereits statt, aber noch längst nicht flächendeckend und an alle Altersgruppen gerichtet.
Aus Ländern, die bereits länger mit Ausgangsbeschränkungen leben, ist bekannt, dass Kinder und Mütter einem erhöhtem Gewaltrisiko ausgesetzt sind . Kindern, die durch eine dauerhafte Betreuung Zuhause gefährdet sind, muss der Zugang zur außerschulischen Betreuung in Kita oder Hort wieder ermöglicht werden, und wenn es nur am Vormittag ist. Teilweise wird dies bereits so praktiziert.
Eine gezielte Informationskampagne für Beratungs- und Hilfezugänge über die Sozialen Medien (Instagram, TikTok, YouTube, Twitch) würde viele Kinder, Jugendliche und Erwachsene derzeit gut erreichen, da sie noch mehr als sonst mit ihren Geräten aktiv sind. Persönliche Kontakte mit den Familien sollten unter Einhaltung des Infektionsschutzes zumindest in Krisensituationen ermöglicht werden .
Den Fachkräften muss weiterhin das bestehende ISEF (Insoweit erfahrene Fachkraft) Netzwerk in Fällen von Kindeswohlgefährdung beratend zur Seite stehen. Ebenso muss allen Fachkräften unkompliziert Supervision zur Verfügung stehen.
Viele Kolleg*innen berichten davon, dass ihnen die zunehmende Verknappung der stationären Plätze große Sorge bereitet. Kinder können unter den derzeitigen krisenhaften Umständen teilweise nicht nach Hause entlassen werden. Die Kommunen müssen hier schnell und unkompliziert zusätzliche Ressourcen und Quarantänemöglichkeiten, z. B. in leerstehenden Hotels, schaffen. Der Allgemeine Sozialdienst (ASD) bzw. die Bezirkssozialarbeit, die Vermittlungsstelle für Hilfen zur Erziehung und die Träger müssen bei Platzsuche und Zuweisung entlastet werden.
Besonders belastete Bereiche wie der ASD, die stationäre Jugendhilfe oder Einrichtungen der Behindertenhilfe brauchen personelle und finanzielle Unterstützung; Kolleg*innen aus anderen Bereichen, deren Angebote momentan zurückgefahren werden, sollten flexibel dort eingesetzt wer¬den, wo der Bedarf am höchsten ist (s. „Sozialpakt“).
Forderung für die Soziale Arbeit mit geflüchteten Menschen
Für Geflüchtete stellt die momentane Situation eine extreme und existenzielle Belastung dar. Im Gegensatz zur durchschnittlichen Bevölkerung haben Bewohner*innen in Gemeinschaftsunterkünften weder eigene Sanitäranlagen noch Küchen. Ihre Privatsphäre ist extrem eingeschränkt, eine soziale Distanzierung unmöglich. Die einfachsten Hygieneempfehlungen wie Händewaschen können nicht eingehalten werden, weil es z. T. nicht einmal Seifenspender in den Gemeinschaftsräumen gibt. Wie die Isolation einzelner Erkrankter in einer Unterkunft umgesetzt werden soll, ist bisher nicht geklärt; die Geflüchteten müssen befürchten, mit mehreren hundert Menschen im selben Gebäude isoliert zu werden. Diese Situation ist für diese vulnerable Gruppe außerordentlich beängstigend und teilweise retraumatisierend.
Die Hauptamtlichen in den Unterkünften haben weder ausreichend Informationen, wie sie ihre Arbeit aufrecht erhalten sollen, noch Schutzausrüstung. Dennoch ist der Verbleib von Sozialarbeitenden in den Unterkünften notwendig, um den Bewohner*innen Halt zu geben und ein gewisses Maß an Normalität und Sicherheit zu gewährleisten.
Bei allen Einsätzen vor Ort muss allerdings die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers gegenüber Mitarbeiter*innen gewährleistet sein. Der Einsatz in risikoreichen Einrichtungen darf nicht erzwungen werden und muss dem Gebot der Eindämmung der Pandemie folgen. D. h. beispielsweise keine Einsätze als Springer*innen oder Aushilfen in verschiedenen Einrichtungen. Die Gesundheit von Mitarbeiter*innen wie Adressat*innen darf nicht gefährdet werden, um (vermeintliche) Bedingungen zur Refinanzierung oder von Zuschussgebern zu erfüllen, wie es eine entsprechende Klausel im Sozialpakt vermuten lässt.
Wir schließen uns außerdem der Forderung der Flüchtlingsräte an, wonach weitergehende Maßnahmen zum Schutz von geflüchteten Menschen getroffen werden müssen, insbesondere bezüglich einer angemessenen und sicheren Wohnform.
Forderung nach zusätzlichen finanziellen Hilfen für Menschen im Hartz-IV-Bezug
Die Einschnitte im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben werden für viele Menschen zu ei¬ner existenziellen Bedrohung. Während Familien mit stabilem Einkommen in der Regel über Rücklagen verfügen, um die Zusatzbelastungen eine Zeit lang ausgleichen zu können, ist dies für Bezieher*innen von Sozialleistungen wie Hartz-IV unmöglich. Der monatliche Regelsatz berücksichtigt keine Mehrkosten aufgrund von Notvorräten, Lieferkosten oder Produktverknappung durch Hamsterkäufe. Das Problem wird dadurch verschärft, dass immer mehr Tafeln bundesweit schließen. Auch die kostengünstigen Mittagstische in Schule oder Kita fallen weg. Ältere, kranke und behinderte Menschen werden sich mit Lebensmitteln beliefern lassen und dafür erhebliche Mehrkosten in Kauf nehmen müssen. Zudem ist durch die Zunahme von Betriebsschließungen und Insolvenzen mit einem massiven Anstieg von Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit, Verschuldung und Armut zu rechnen.
Verbände und Wissenschaftler*innen haben deshalb Sonderzahlungen für alle Menschen im Leistungsbezug gefordert . Im Sozialpaket der Bundesregierung vom 23.3.2020 wurde diese Forderung nicht berücksichtigt. Der AKS München hält die Forderung dennoch aufrecht, den monatlichen Regelsatz von Hartz-IV und Sozialhilfe vorübergehend zu erhöhen.
Wir fordern außerdem einen einmaligen Zuschlag für alle leistungsberechtigten Haushalte für die Anschaffung von Laptop und Drucker. Nachdem zu erwarten ist, dass die Isolationsmaßnahmen über mehrere Wochen anhalten werden, muss die gesellschaftliche Teilhabe einkommensschwacher Familien über elektronische Medien sichergestellt werden. Viele der hilfebedürftigen Familien leben in äußerst beengten Wohnverhältnissen und sind sozial weniger gut vernetzt. Telefon und Internet sind die einzigen Medien, mit denen Sozialkontakte nach Außen verlässlich aufrechterhalten werden können. Auch die Schulen haben während der Schulschließungen komplett auf E-Learning umgestellt. Viele einkommensschwache Haushalte besitzen jedoch nicht die notwendigen internetfähigen Geräte und Drucker, um die verschickten Unterlagen abzurufen und an E-Learning-Angeboten teilzunehmen. Die Stadt München hat vor einigen Wochen bereits für alle Schüler*innen im ALGII-Bezug 250 Euro bewilligt – diesem Beispiel sollten die Länder folgen. Der Zugang zu Bildung und Teilhabe muss gewährleistet sein!
Forderung nach mehr interdisziplinärer Zusammenarbeit
Um die Menschen in der Krise umfassend zu begleiten, hält der AKS München eine Zusammenarbeit mit relevanten Disziplinen, v. a. dem Erziehungsdienst, Psycholog*innen, Therapeut*innen, Ärzt*innen, Lehrer*innen und weiteren helfenden Professionen, für dringend erforderlich. Dies ist in dieser komplexen Situation entscheidend, um das psychosoziale Wohlergehen der Menschen zumindest in der Balance zu halten. Gute interdisziplinäre Absprachen in den Helfersystemen helfen außerdem, die Arbeitslast gut zu verteilen und Doppelarbeit möglichst zu vermeiden.
Aufforderung an Arbeitgeber in Sozialen Einrichtungen: Schutz von Risikogruppen in der Mitarbeiter*innenschaft, Unterstützung belasteter Bereiche
Die Öffentlichen und Freien Träger sind aufgefordert, die Gesundheit ihrer Mitarbeiter*innen zu garantieren. Risikogruppen innerhalb der Teams müssen besonders geschützt werden! Über die Möglichkeiten der individuellen Krankschreibung oder einer, sofern vorgesehenen, Freistellung hinaus, appelliert der AKS München an die Träger und Verbände, schnelle und unbürokratische Freistellungen ohne Lohneinbußen für Risikogruppen zumindest dort zu gewährleisten, wo die Tätigkeit nicht von zu Hause aus durchgeführt werden kann.
Soziale Arbeit muss sich weiterhin aktiv einbringen und das Wohlergehen ihrer Adressat*innen so gut als möglich gewährleisten – Soziale Arbeit ist eine systemrelevante Berufsgruppe!
München, den 29.03.2020